Genesis-Suite (2018)

220 Sänger und Instrumentalisten musizieren mit der Genesis-Suite eine mitreißende Musik über die Hoffnung der Unterdrückten und die Not-Wendigkeit zur Veränderung der Welt, die einen musikalischen Bogen spannt von Musik der Gruppe Genesis hin zum großen sinfonischen Filmmusiksound des 21. Jahrhunderts. Es musizieren der Jugendchor und Eltern-Lehrerchor der EGE sowie die Bläserphilharmonie Thum.

21.4.2018, 19.30 Uhr, Sporthalle der Evangelischen Schulgemeinschaft

22.4.2018, 17 Uhr, Sporthalle der Evangelischen Schulgemeinschaft

29.4.2018, 17 Uhr, Stadthalle Chemnitz (Kleiner Saal)

Und hier ein paar Eindrücke von den ersten Aufführungen

Die Genesis-Suite

Inspiration dürfte der britische Dirigent und Komponist Tolga Kashif (1962) zyprisch-türkischer Abstammung für seine Komposition aus zweierlei Quellen erfahren haben, was dem Namen „Genesis-Suite“ einen doppeldeutigen Bezug verleiht: Zum einen stand ein in der Musikgeschichte einzigartiges Werk Pate: die gleichnamige „Genesis-Suite“ aus dem Jahr 1945. Aus dem vom Nationalsozialismus erschütterten Europa emigrierte Komponisten wie Arnold Schönberg, Ernst Toch und Igor Strawinsky hatten gemeinsam auf der Grundlage biblischer Texte zur Grundlegung der Welt und des menschlichen Wesens (Moses 1-11) eine Konzertsuite geschaffen, die in ihrer stilistischen Vielfalt ihres Gleichen sucht. So steht Hollywoodsound der 40er Jahre neben atonalen Klangwelten der musikalischen Avantgarde. Gemeinsam ist beiden siebensätzigen Werken neben ihrem Namen und der äußeren Form auch ihr Stilpluralismus. So klingt die Musik von Kashif wie ein Stilmix etwa aus großer Filmsinfonik, Brahms, Rachmaninow, Strawinsky und Holst. Darüber hinaus verbindet beide auch der inhaltliche Bezug auf existenzielle Fragen der menschlichen Existenz.

Das musikalische und lexikalische Material entstammt dabei zum großen Teil aus dem reichen musikalischen und inhaltlichen Fundus der Gruppe Genesis. Es handelt sich dabei nicht um Arrangements der Genesis-Songs im Stile eines Symphonic Rock, sondern um sinnstiftendes sinfonisches Komponieren, in dem die Originale als motivisch-thematisches Material Eingang und wirkungsstark wie bedeutungsreich zusammenfinden. Anders als in der ersten Suite setzt Kashif für die beiden Rahmensätze einen vier- bis achtstimmigen Chor ein, der eine wichtige Klangfarbe darstellt, durch die Textgebundenheit den Inhalt eindrücklicher zu vermitteln weiß und so die Musik beim Hörer unmittelbar wirksam macht.

Ihr Sprachen- und Stilmix sowie ihre inhaltliche Botschaft machen die Genesis-Suite zur Weltmusik im besten Sinne.

Die Sätze im Einzelnen:

1. Land of Confusion/ Tonight Tonight Tonight

Der erste Satz beginnt mit einem romanisch-asiatisch-afrikanischen Sprachenmix: Suaheli, Esperanto, Türkisch, Spanisch, Sanscrit, Aserbaidschanisch, Italienisch … – was sprachlich geradezu an babylonisches Sprachengewirr erinnert, symbolisiert ethno-musikalisch ausgeleuchtet eine globalisierte Welt. Der motivisch zugrundeliegende Genesis-Song „Land of Confusion“ („Land der Verwirrung“) spielt auf das gesellschaftliche Klima der Angst vor nuklearer Bedrohung in den 80ern an. Dort heißt es „Die […] Männer der Macht verlieren stündlich mehr Kontrolle. Dies ist die Zeit, dies ist der Ort, in denen wir nach der Zukunft suchen. Aber da ist nicht viel Liebe, die man weitergeben könnte. Kannst Du sehen, dass dies das Land der Verwirrung ist?“ Und in der Tat: in den Wohlklang des Sprachenmixes mischt sich nicht zuletzt im Schlagwerk Treibendes, Drohendes, Zerstörerisches, das jenen exponierten Perkussionsteppichen nachempfunden ist, die die beiden Originalstücke durchziehen. Bald schon sind deutliche Zitate aus dem Song „Tonight, tonight, tonight“ zu hören, gleich eines Achtungszeichens, das uns die Realität vor Augen führt: es geht nicht um einen historischen Blick, sondern um die unmittelbare Gegenwart “Heute Nacht“. Dabei verweist der Song auf den Lebenshunger der Abgehängten, der Eingesperrten, der Ausgeschlossenen dieser Welt. Diese finden wir in unserer westlichen Gesellschaft aber vor allem außerhalb dieser – und diesen Blick öffnet Kashif mit seinem babylonischen Beginn. Genesis rüttelt in “Land of Confusion“ auf: „Lass uns anfangen zu versuchen diese Welt zu einem Ort zu machen, in dem es sich zu leben lohnt!“ Aber anders als im preisgekrönten Musikvideo von 1988, in dem der amerikanische Präsident aus Versehen und aus Verwirrung eine Atombombe zündet (welche Brücke zur aktuellen globalpolitischen Entwicklung!) führt Kashif das Ensemble mit den Hoffnungen der Unterdrückten zu einer gewaltigen Steigerung, die das Stück kraftvoll und unter hohem Druck enden lässt.

2. Ripples (Wellen)

In starkem Kontrast zum fordernden Charakter des 1. Satzes entspinnt sich nun folgend ein leichtes Wellenspiel des Solo-Klavieres, begleitet von sanftem Holzbläserlicht; verspielt übertüncht es, dass in der Tiefe jede Bodenhaftung fehlt. Die schon bei Genesis schwebende Harmonik lässt den Hörer nie zur Ruhe kommen, orientierungslos treibt ihn Kashifs Deutung dahin. Im Originaltitel thematisiert Genesis im Bild der Meerjungfrau Illusorisches, trügerischen Schein, die Verführungkraft des Sagenhaften. Und auch wenn der Originaltitel aus dem Jahr 1976 stammt, mutet der Text doch erschreckend aktuell an, erinnert an Flüchtlingskrise und Fortschrittswahn: Denn das „Pilgern zum Gelobten Land wo Milch und Honig fließen […] zieht Dich hinab auf die Knie“. Verlangen führt zum Verderben: schon das Alte Testament spricht in seinen Genesis-Texten davon, wenn auch mit anderen Bildern. Kashif gestaltet das Stück wie den langsamen Satz eines Klavierkonzerts, dieser lädt in seiner kontemplativen Haltung traditionell zum Entspannen und zum Imaginieren ein. Wie in rachmaninoffschen Vorbildwerken verbinden sich im Klavier Begleitfunktion und virtuoser Solopart: mal arpeggiert das Klavier Begleitwellen, mal markiert es melodieführend gleichsam der Schaumkronen die Bewegung des ambivalenten Wassers. Mehrfach machen sich für kurze Zeit nachdenklichere Töne bemerkbar, werden aber schnell von spätromantischer Schönfärberei ausgebremst. Die Weichheit der Wellen bestimmt den Satz, nicht ihre Zerstörungskraft; das abruppte Ende mit seinen scharfen Vorhalten lässt dennoch ahnen, wessen sich das Ohr mit dem sanften Wellenspiel vor allem hingegeben hat: einer Illusion.

3. Mad man moon

Aus dem Sound spätromantischer Klavierkonzerte entführt das Orchester nun in Filmmusiksound zwischen Erich Wolfgang Korngold und John Williams, kombiniert mit der konzertierenden Rafinesse eines Violinkonzertsatzes etwa eines Max Bruch. Die Solovioline kommentiert unablässig schmerzvoll ihre Sehnsucht und intoniert zum Teil leidenschaftlichen Instrumentalgesang. Zweiter und dritter Satz der Genesis-Suite haben manches gemeinsam: die zugrundeliegenden Genesis-Titel stammen vom selben Album, sie thematisieren beide menschliche Illusionen, beiden fehlt harmonischer Halt: das musikalische Geschehen wird bestimmt durch die vergebliche Suche nach Stabilität. Angelehnt an den Originaltitel der englischen Progressivrocker wird der Satz zu einem Psychogramm des Egozentrikers. Genesis kritisiert in „Mad man moon“ dass im Hoffen und Handeln des Menschen meist eines fehlt: der Blicks fürs Große Ganze: “Im Tal des Todes ohne Schatten beten sie um Gewitterwolken und Regen: doch für die Menge, die im Regen steht, ist dort der Himmel, wo die Sonne scheint.“ Sehr plastisch entsteht vor dem Hörer die Illusion einer im Genesis-Text beschriebenen Fata Morgana. Gerade hatte das Ohr in einem der Zwischenteile Gefallen an dem Bild eines Triumphmarsches gefunden, als dieser schon wieder in flirrender Sonne untergeht, hervorgerufen durch minimalistische Begleitfiguren, die an Phil Glass‘ Musik in der apocalyptisch verfilmten Zivilisationsgeschichte „Koyaanisqatsi“ erinnern. Schwelgen wird unmöglich, Suchen bleibt allgegenwärtig: bis kurz vor das Ende. Hier gelingt die Grundtonart, das Stück kommt zur Ruhe. Die Suche beenden? Sich arrangieren mit dem Schicksal? Die Ruhe täuscht! Denn wie am Ende des zweiten Satzes versetzt Kashif die schwer errungene Grundtonart mit der unbestimmten Spannung einer hochalterierten Quinte: Zugrunde liegt im Genesis-Text ein Zwiegespräch zwischen Realist und Träumer. Der eine (ver)tröstet: „Der, der für immer in der Wüste lebt, muss lernen, nicht an das Meer zu glauben.“ Aber der andere erwidert mit Wandlungsmut: „Wenn diese Wüste alles ist, was es je geben wird, dann sag mir, was aus mir werden soll. Ein Regenschauer?“

4. Fading Lights (Verschwimmende Lichter)

Das einzige reine Orchsterstück der Suite erklingt in erstaunlicher Klangvielfalt. Zum Sinfonischen Blasorchester treten – wie auch in den vergangenen Stücken, nun aber deutlich vernehmbar – tiefe Streicher, Celesta und Harfe hinzu. Diese Vielfalt akustischer Klangerzeuger wird zum Programm und steht als Mittel im großen Kontrast zum über weite Strecken bestimmenden stark elektronisierten Sound des Originalsongs. Inhalt und Ziel aber ähneln sich: Spärisches, Verschwimmendes lässt die Gedanken schweifen. Der zugrundeliegende Genesis-Text fragt nach den Prioritäten in unserem Leben und gleicht im Warnen vor der eigenen Vergänglichkeit einem barocken Vanitas-Gemälde – nicht so die Bearbeitung von Kashif. Der Text legt uns ans Herz, dass es an uns sei, die Geschichte nicht einfach geschehen zu lassen, sondern aus ihr zu lernen und in sie einzugreifen. Erinnerungen „lassen uns alle zurück, verloren in einer sich ändernden Welt.[…] Tage des Lebens, die so unwichtig zu sein schienen, scheinen erst viel später zu interessieren und zu zählen. Erinnere Dich!“ Immer wieder greift dieser vierte Satz auf den zweiten, „Ripples“ zurück. Das Zitat aus dem längst verklungenen Stück selbst ist Erinnerung! -„Sail away away – Segle weiter weiter“! War es nicht genau diese – unsere – expansive eurpoäische Politik, die Welt-Geschichte wurde und heute späte Konsequenzen bringt? Helle Farben, Pentatonische Reihen, hohe Holzbläserumspielungen, Rückungen impressionistischen Charakters muten exotisch an: sie erinnern an den erwartungsfrohen Aufbruch der Europäer ins Ungekannte aber sie wecken auch Erinnerungen an die Tonsprache von Debussy und Puccini, die den Reiz des Fremden zur Erneuerung der europäischen Musik zu nutzen wussten. Erinnerung und Horizonterweiterungen werden konstruktiv. Aus Vanitas wird Erneuerung, aus menschlicher Vielfalt Bereicherung?

5. Undertow

Ähnlich wie der erste Satz beginnt auch der letzte mit ethnomusikalischen Bezügen, allerdings gewinnt die Musik hier durch Dissonanzreichtum, virtuose Sechzehntelketten und großen Ambitus schnell einen hohen Grad an Dramatik. Eindringlich nimmt dem Klagegeschrei erstmals die zentrale Zeile aus dem Genesis-Song „Undertow“ den Leidensdruck: „Stand up to the blow“ („Stelle Dich dem Wind entgegen“). Doch die Vision der Nächstenliebe zieht rasch vorüber. Es folgen Liedzeilen aus dem Song „Blood of the Rooftops“ („Blut auf den Dächern“). Sie gleichen einer Aufzählung von Belanglosigkeiten aus dem amerikanischen Kino, mit denen sich der im Wohlstand Satte von der Realität abzulenken versucht. Dennoch: nicht zu überhören ist die Warnung, die Kashif aus diesem Song herausarbeitet: Nichtstun wird die Welt ins Verderben stürzen, ein Weltkrieg ist denkbar! Die anschließende Kriegstreiberei, die musikalisch bis in Klangwelten von Strawinskys „Le sacre du printemps“ zurückführt und in die Katastrophe zu münden droht, wird vom Choreinsatz jäh unterbrochen: „Stell Dich dem Wind entgegen, den das Schicksal Dir bereitet“. „Undertow“, aus dem diese Zeile stammt, ist eine Hymne an das Leben. Die Ängste wandeln sich in Hoffnung, aus dem Winter führt der Ausweg in den Frühling. Aber die Wucht der Chorpartie führt vor Augen, dass dieser Frühling nicht logische Konsequenz ist sondern der persönlichen Entscheidung bedarf. Immer weiter steigert sich dieses Aufbäumen gegen das vermeintliche Schicksal, bis allmählich Ruhe einkehrt: „Lege Dich auf den Boden und lasse die Tränen fließen. […] Lass das Leben mich finden.“ Blinder Aktionismus allein wird unsere Welt nicht retten können, wir brauchen unser ganzes Mitgefühl. Und so folgt gleichsam eine Auferstehung ins Leben. Minutenlang erklingt dieses eine Wort „Heaven“ („Himmel“), beleuchtet in immer neuen harmonischen Farben, in größter Ruhe und zuweilen auch voller Zuversicht. Und doch: Kashif zeichnet keine heile Welt, das Ende führt nicht ins Licht, sondern in die Tiefe. Ganz in der Stille und nachdenklich klingt das Werk aus.